Excerpts

Sorge

Ich weiß nicht, wo ich mit dem Schreiben anfangen soll. Seit dem Erdbeben sind schon mehr als 10 Tage vergangen.
Das Haus meiner Eltern liegt etwa 40 km vom Kernkraftwerk Fukushima entfernt und gehört damit zu der Zone, in der die Einwohner im Hausinneren bleiben sollen. Die Gegend ist bekannt für ihr festes Erdreich, weshalb wir keine Schäden durch das Erdbeben oder den Tsunami davongetragen haben. Dafür machen meinen Eltern die Probleme im Kernkraftwerk aber umso mehr zu schaffen. Seit dem Beben bekommen sie kaum Informationen von außerhalb, auch wenn die Lage natürlich nicht so schlimm ist wie bei denjenigen, die Familienangehörige oder das Haus durch den Tsunami verloren haben.

Niemand sagt ihnen, ob eine Gefahr durch das Atomkraftwerk besteht oder nicht, und so bleibt ihnen nichts übrig, als im Haus zu bleiben und die Nachrichten zu schauen, während sie im Inneren mit einem unsichtbaren Feind kämpfen. Sie haben nur wenig Benzin im Tank und die Züge stehen still, also ist ungewiss wie weit sie fliehen könnten.

Linda Yuki Nakanishi

Meine 70-jährige Mutter ist lieber zuhause geblieben als die Strapazen auf sich zu nehmen, in die spärlich ausgestatteten Notunterkünfte zu gehen. Sie sagt, sie habe sich schon an die täglichen Nachbeben der Stärke 3 gewöhnt zu haben, und so hat sie sich auch mit einem Alltag arrangiert, in dem es keine Informationen oder Anweisungen gibt, fast als ob die Regierung sie alle vergessen habe.

Was tut die Regierung denn überhaupt? Sind ihr die Bürger aus Fukushima völlig egal?

Die Bewohner aus einer Stadt in der Küstengegend haben sich nach den Verwüstungen durch den Tsunami und die Bedrohung durch radioaktive Strahlung dafür entschieden, die Gegend gemeinsam zu evakuieren, ohne auf Anordnung von oben zu warten. Auch in meiner Heimatstadt würde niemand fliehen, wenn nicht alle zusammen gehen. Warum? Weil auch aus unserer Nachbarstadt fast niemand geflohen ist.

Keiner würde hier daran denken, nur sich alleine in Sicherheit zu bringen. In der Sporthalle meiner Heimatstadt sind Flüchtlinge aus einer anderen Gemeinde untergebracht. Niemand könnte sie zurücklassen nur um sich selbst zu retten. Die Leute aus der Tohoku-Region sind stoisch, aber auch mitfühlend, besonnen und bescheiden; und so ertragen sie die Lage still. Sicher würden sie sich gerne darüber beschweren, aber sie halten sich zurück, weil sie wissen, dass da Menschen sind, denen es noch viel schlimmer geht.

Sie glauben nicht mehr daran, dass die Regierung noch etwas für sie tut. Aber umgekehrt stärkt dies ihre Entschlossenheit, vor Ort zu bleiben und auch in dieser Situation noch ihr Bestes zu geben. Jetzt werden haltlose Gerüchte über radioaktive Stoffe in der Gegend verbreitet, obwohl die Menschen aus Fukushima überhaupt nichts dafür können. Sie sind genauso Opfer wie die Menschen in den anderen Katastrophengebieten.

Bitte missachten Sie ihre Leiden nicht länger. Bitte erkennen Sie wie ernst die Wirklichkeit dort ist! Und vor allem geben Sie den Menschen endlich präzise Informationen!! Bitte schalten Sie das AKW schnell und sicher ab!! Denn die Menschen in Fukushima geben ihr Bestes!

Yuki Watanabe
Tokyo
(Aufgewachsen in Tamura, Fukushima)

———————————————-
Ermutigung

Kiyomu Tomita

Die letzte Woche war ein Alptraum. Ich bete, dass all diejenigen, die von dieser schrecklichen Katastrophe getroffen wurden, bald aus diesem bösen Traum erwachen, aber ich habe keine tröstenden Worte für sie.
Für meine Frau und mich, die schon im hohen Alter sind, war es eine harte Woche, aber verglichen mit den Leiden der Menschen in den Notunterkünften ist es nicht erwähnenswert. Ich habe auch mit anderen Menschen in meinem Alter gesprochen, und jetzt wo sich die Dinge ein wenig beruhigt haben, würde ich gerne versuchen, euch ihre Eindrücke zu vermitteln.

Meine Generation tut sich schwer damit, an Informationen zu kommen, und deshalb war das Radio nützlich für uns. Viele von uns hören regelmäßig das Abendprogramm und haben deshalb immer ein Radiogerät zur Hand. Es ist verblüffend, wie lange die Batterien halten.

Wir wissen zwar, wie man mit Handys telefoniert und Mails verschickt, aber wir haben Schwierigkeiten damit, die Notfallanwendungen zu bedienen. Der Akku entlädt sich, während wir auf den Tasten herumdrücken, und so haben es die meisten von uns schon aufgegeben unser Glück damit zu versuchen.

Das Internet benutzen auch nur wenige aus meiner Generation, und da man ohne Strom auch nicht online gehen kann, konnten wir es während der Stromausfälle natürlich nicht benutzen. Und selbst wenn wir ins Netz kommen, ist es schwer für uns, die Informationen zu finden, die wir haben möchten. Und ohne Strom können wir natürlich auch nicht fernsehen.

Wir selbst haben zwar keinen ausreichenden Zugang zu Informationen, aber dafür gibt es Leute in der Nachbarschaft, die sich besser mit dem Internet auskennen und die wir fragen können. Deshalb ist es gut, dass man über Mobiltelefone und das Internet an solche Informationen kommt.

In unserem Haus kommen Fernsehen, Internet und Telefon alle vom selben Anbieter. Wir hatten Angst, dass die Infrastruktur zusammengebrochen wäre, aber die Leitungen konnten glücklicherweise schnell wieder hergestellt werden.

Die Stärke meiner Generation liegt in ihrem Erfahrungsschatz. Dieses Erdbeben war eine unvorstellbare Katastrophe, aber wir, die schon den Krieg und die Wirren danach, die Ölkrisen in den 70ern und auch das Sendai-Erdbeben 2005 durchlebt haben, sind wachsam geblieben und viele hatten Vorräte für den Notfall angelegt.
Ich bete, dass die alten Leute, die schwach oder krank sind, bald medizinische Betreuung erhalten. Aber diejenigen von uns, die noch fit sind, würden sich am meisten darüber freuen, wenn ihr ihnen sagt, dass ihr die Sache gemeinsam mit ihnen durchstehen wollt, und nicht sie nur zu unterstützen.

Um ganz offen zu sein, es ist alles andere als leicht für die Menschen über 80. Es friert uns bis in die Zehenspitzen und wir bekommen Rückenschmerzen, wenn wir stundenlang für Trinkwasser und Lebensmittel anstehen müssen. Aber wenn ich sehe, wie junge Mütter mit ihren kleinen Kindern geduldig warten, bis sie an die Reihe kommen, oder wie gekonnt junge Frauen mit nichts als einem Taschenrechner die Einkäufe der Kunden zusammenrechnen, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass dieses Land an dieser Katastrophe nicht zerbrechen wird.

Es ist schon länger her, dass meine Frau und ich Hand in Hand miteinander gearbeitet und uns gegenseitig so unterstützt haben. Auch unsere Kinder haben uns Mut zugesprochen und uns geholfen die Stärke unserer Familienbande neu zu erkennen. Und auch von vielen anderen Menschen wurden wir immer wieder ermutigt, durchzuhalten.

Ich habe schon viele Jahre gelebt. Noch immer ist die Nacht zum Tag geworden und nach jedem Regen kam auch wieder Sonnenschein. In dieser einen Woche haben sich die Umstände schon gebessert, und nächste Woche wird es auch weiter vorangehen. Jetzt gilt es, zu zeigen, aus welchem Holz wir Vorkriegsgeborene geschnitzt sind. Wir müssen stark bleiben.

Großvater Hibiki
Sendai

———————————————-
Abgeschiedenheit

Ich werde nie das erste Video vergessen, das ich vom Tsunami sah. Diese schwarze Masse rollte über die Landschaft, verschluckte, zerkaute, und spuckte alles aus, was in ihrem Weg war. Ich wartete auf die Ebbe, doch sie kam nicht. Das schwarze Wasser floss einfach nur weiter und weiter. Ich spulte das Video zurück und drückte die Pausetaste, starrte auf die eingefrorene Szenerie auf meinem Bildschirm. Ich selbst war auch eingefroren.

Linda Yuki Nakanishi

Selbst auf Video ist es schwer die Geschwindigkeit des Ereignisses zu begreifen, und den Lärm, den diese gigantische Menge Wasser im Vorbeiströmen erzeugt haben muss. Die Menschen davor müssen sich gejagt gefühlt haben, voller Furcht, dass sie nicht entkommen können. In sieben Minuten Video verschwand die gesamte Landschaft. Es wurde begonnen, die Zahl der Todesopfer zusammenzuzählen. Ein Toter, dann siebenunddreißig, dann… Hunderte, Tausende. Hier in England traf es mich, dass diese Menschen starben ohne je zu wissen, ob ihre Geliebten überlebt hatten.

Natürlich gab es mehr Videos, vom Danach. Sie zeigten Boote wo Autos sein sollten, Autos wo Menschen sein sollten, und überhaupt sehr wenige Menschen. Ich sah tränenreiche Wiedervereinigungen von Überlebenden, die mich selbst zum Weinen brachten. Ich weiß, in meiner geographischen Abgeschiedenheit habe ich kein Recht so ergriffen zu sein, aber auch ich fühle für sie mit.

Sybil Murray
United Kingdom

———————————————-
Stimmen

Aufzuwachsen mit einer seit jungen Jahren an Kinderlähmung erkrankten Schwester, ist etwas, dass ich Ihnen nicht in wenigen Worten so erklären könnte, dass ihnen der Satz entführe, “Oh, jetzt verstehe ich vollkommen, wie das sein muss.” Was ich Ihnen aber beschreiben kann, ist das Gefühl, wenn mir meine kleine Schwester sagt, dass sie eifersüchtig auf mich ist, weil ich im Park umher laufen kann; zu sehen, wie sie in ihrem Zimmer weint und wie sie sich die Haare vor lauter Enttäuschung mit der linken Hand heraus reisst—der stärkeren ihrer beiden Hände. Dieses Gefühl, diese Leere. Weil Ihnen etwas vergönnt ist durch die himmlischen Mächte, das jemand anderem (der es genauso sehr wie Sie verdiente) verwehrt bleibt.

Seit dem 11. März, ermahne ich mich selbst, mir bei meinem Handeln bewusst zu sein, dass es in Krisenzeiten viele Menschen gibt, deren Stimmen überhört werden; mehr vielleicht als im alltäglichen Leben.

Wer spricht für die vom Leid geplagten Alten, Kinder und Behinderten, egal ob sie Japaner sind, oder nicht? Wohin können sie gehen? Wer wird ihnen zuhören und ihnen sagen, dass ihre Bedürfnisse genauso wichtig sind, wie die jedes anderen, und wer nimmt sich ihrer an? Diejenigen, die eine Stimme haben, der dringend Gehör geliehen werden muss — wer stellt sicher, dass die Münder aus denen sie kommt, verköstigt werden und nicht aufspringen vor Kälte; nicht zum Verstummen gebracht werden von falschen Wertmaßstäben oder von Tunlichkeiten.

Jessica Tomoko Perez
The Bronx, New York

———————————————-
Warten

Als mein Smartphone am Freitagmorgen um 3 Uhr, Ontario-Zeit, klingelte, und mir die Nachricht über ein massives Erdbeben in Japan brachte, weckte ich Hiromi. Ihre Eltern waren in Miyagi. Sie murmelte was davon sie am morgen anzurufen und schlief wieder ein. Wir hatten erst vor ein paar Stunden mit ihrem Vater per Video durch Skype gesprochen. Es konnte warten.
Der Morgen kam und das Fernsehen zeigte Bilder von Autos die unter eine Brücke durchgespült wurden, wie Eisschollen auf einem Frühlingsfluss; Fischerboote, die sich auf Gebäuden niedergelassen hatten, ganze Dörfer, zu schlammbedeckten Trümmern reduziert. Wir wählten und wählten die Nummer, aber es half nichts.
Wir wussten, das Oji-san zu Hause in Wakayanagi gewesen wäre, weit genug im Landesinneren, um vor den tödlichen Wellen sicher zu sein, aber Oba-san sollte an dem Nachmittag für einen Vortag in Sendai sein.
Das Trommelfeuer von Anrufen von Familie und Freunden begann praktisch sofort mit meinen Eltern, die anboten, ihren Urlaub im Süden zu verkürzen. „Nicht nötig,“ sagten wir zu ihnen, „ausser warten, gibt es nichts zu tun.“ Ich war gerade lange genug auf Arbeit, um meinen Chef über die Situation zu informieren und wurde nach Hause geschickt, um zu warten. Stunde um Stunde sahen wir die Nachrichten. Wir starten auf den Horror im Fernsehen, wie Hasen auf dem Highway bei Nacht, unfähig von den näher kommenden Scheinwerfern abzuwenden. Aber uns würde dieses Schicksal nie erreichen, sich nur ständig nähren. Alles was wir tun konnten, war zu warten, durch die Entfernung an Ort und Stelle gefesselt, unfähig etwas zu tun.

Philipp Christoph Tautz

Dutzende riefen an und schrieben E-Mails um ihre Sorge, Sympathie, ihren Horror und ihre Unterstützung auszusprechen. Gab es etwas, dass sie tun konnten? Brauchten wir etwas? Nein, da war nichts. Nur warten. Stunden der Angst streckten sich in Tage. Die Kinder wurden regelmässig mit Essen versorgt und ansonsten der Obhut von Nintendo und Walt Disney überlassen. Ich kochte, beobachte die Nachrichten und beantwortet das Telefon, wahrend Hiromi vor NHK’s Internetübertragung festsaß und stündlich das Ritual wiederholte, eine Aufnahme in Japan anzurufen, die uns Mitteilte, dass unser Anruf nicht durchgestellt werden kann. Appetit und Schlaf wurden zu einer fernen Erinnerung. Ich gab mich einer gereizten Erschöpfung hin, mit medizinischen ausgewogenen Dosen Vodka und döste unstetig, um nach ein paar Stunden aufzustehen und sie ihre Wache aufrechterhaltend zu finden, während die Trommelschläge der Verzweiflung in den 24-Stunden Kabelnachrichten weiter geschlagen wurden.
Ich mühte mich durch die Arbeit, so abgelenkt, dass ich kaum einen klaren Satz zusammen bekam. Mittwoch kam und ging, ohne Kontakt; die ständige Sorge und das nicht-wissen nagten an unseren Seelen, wie eine gefange Ratte. Wir blieben ruhig, wissend, dass der kleinste Riss des emotionalen Dammes eine Flut vom Panik bedeuten würde.
Am Donnerstag kam ich früh aus dem Büro, setzte mich, um zu versuchen zu Arbeiten und sah, dass sich Schwiegervaters kaltes, graues Skypesymbol in ein leuchtendes, freundliches Grün verwandelt hatte. Sein Computer war wieder online. Sie hatten Strom. Ich rief Hiromi und sie raste zum Telefon.
Wir riefen an und endlich, nach langer Zeit, antworteten sie.
Das Warten war vorbei.
Kevin Wood,
Hamilton, Ontario, Canda

———————————————-
BEDÜRFNIS

Ich bin seit 15 Jahren in Tokio und es fühlt sich so an als ob ich hier jetzt mehr gebraucht werde als je zuvor. Die Entscheidung hier zu bleiben war eine der schwierigsten, die ich je in meinem Leben treffen musste. Ich habe Japan als mein Zuhause angenommen. Ich würde niemals meine Familie in einem brennenden Haus zurücklassen. Unser Haus brennt noch nicht, aber ich muss für den Fall da sein, dass es doch in Flammen aufgeht. Als Gemeinschaft schulden wir das Japan vielleicht nicht. Aber wenn ich an die „Fukushima 50“ denke, die Leib und Leben riskieren, wenn ich an die Kinder in der Tohoku-Region denke, die nun keine Eltern mehr haben, wenn ich an die unermesslichen Schäden in der Region denke, die das Ausmaß des Hochwassers in New Orleans bei weitem überschreiten, dann muss ich einfach hier bleiben.
Hier ist es, wo ich sein will.

Dan Castellano
Tokyo

Die Auszüge auf dieser Seite sind der noch in Arbeit befindlichen deutschen Ausgabe von Quakebook entnommen. Einige Texte, die auf der englischen Seite gefunden werden können, sind noch nicht fertig und folgen. Änderungen sind vorbehalten.

Leave a Reply